19 Dez Für sie ist das Krippenspiel ein Stück Heimat
Mehr als 800 Buben und Mädchen aus der Ukraine leben derzeit in Ulm. Ein Teil von ihnen gestaltet an ihrer Schule eine besondere Weihnachtsfeier.
Es ist ein Krippenspiel, wie es in diesen Wochen an vielen Schulen gezeigt wird. Und doch eine Aufführung, die so ganz anders ist. „Vertep“ heißt das traditionelle ukrainische Krippenspiel, das mehr als 60 Schülerinnen und Schüler der ukrainischen Samstagsschule „Znayko“ in der Martin-Schaffner-Schule erlebten oder selbst aufführten – ein wichtiges Stück Identität für sie, erklärt Nestor Aksiuk, Vorsitzender der Deutsch-Ukrainischen Gesellschaft Ulm/Neu-Ulm.
„Vertep“ ist ein uraltes Mysterienspiel, das man eigentlich als Puppenspiel aufführt – aber es ist auch stark verbunden mit ukrainischen Weihnachtsliedern. 1999 haben es die Charaktere der Tradition in der Ukraine sogar auf eine Briefmarke geschafft. Die Kinder im Krippenspiel sind verkleidet als die Figuren dieses Spiels – die Engel und die Könige sind dabei, aber auch der Sensenmann und der Teufel.
Wo das Gute ist, das Heil, ist immer auch das Böse nicht weit, erklärt Aksiuk die Figuren, die für einen süddeutsche Weihnacht gewöhnten Zuschauer zunächst befremdlicher scheinen. In der ukrainischen Tradition holt der Tod den König Herodes nach dem Kindermord. Aber gerade zwei Mädchen haben offensichtliche Freude daran, den Teufel zu spielen, während unter den Engelchen auch Jungen sind.
„Vertep“ bedeutet „Höhle“, aber meint auch einen geheimen Ort. Die Tradition des „Vertep“ überlebt seit Jahrhunderten, überstand alle sowjetischen Versuche, ukrainische Kultur zu überdecken. Es sei ungemein wichtig, dass die Kinder, die mit ihren Eltern vordem Krieg geflohen sind, diese Kultur kennen und weitertragen, erklärt Aksiuk.
Über 800 ukrainische Kinder sind allein in Ulm gemeldet. Wissen über die eigene kulturelle Identität sei auch wesentliches Ziel der Samstagsschule, erläutert Aksiuk das Konzept der Schule, an der inzwischen mehr als 60 Kinder aus Ulm und Neu-Ulm jeden Samstagvormittag Unterricht in ukrainischer Sprache, Literatur, Geschichte und Ethik bekommen. „Für die Kinder ist das ein Stück Heimat.“ Zur Unterstützung der Schule übergaben Vertreter der Leipheimer Firma A.I.D.O. einen Spendenscheck in Höhe von 5000 Euro.
Den Kindern, von denen viele ukrainische Tracht tragen, merkt man die Spannung an – es ist das erste Mal, dass die sie hier in Deutschland dieses traditionelle Spiel aufführen und erleben können.Außerdem liegen Geschenke unter Weihnachtsbaum, und Stadtrat Thomas Kienle begrüßt sie auf Ukrainisch – wenn auch der Text seiner Rede von Oksana Hanke übersetzt werden muss.
Eine Videoschaltung zu einem Gymnasium nach Odessa zeigt die Planungen der Zukunft auf: Wenn der Krieg vorbei ist und wenn sich die Situation so weit beruhigt haben sollte, plant man eine Kooperation mit diesem Gymnasium, vielleicht einen Austausch. Und auch in der Rede von Thomas Kienle riecht es nach hoffnungsvoller Zukunft für die Ukrainer, wenn er über einen geplanten EU Beitritt im Jahr 2030 spricht. Die Ukrainer brächten alte tradierte Riten und Glaubenssymbole mit nach Deutschland, sagt Kienle.
Einen bringt die Nervosität der anderen Kinder nicht aus der Ruhe: Der sechsjährige Dominik singt hingebungsvoll alle Stropheneines Liedes vom Heiligen Nikolaus, der in der Ukraine in christlichen Familien traditionell die Geschenke bringt. Früher tat der Nikolaus das erst zum Weihnachtsfest der orthodoxen Kirchen am 6. Januar, doch das ändere sich gerade, erklärt Aksiuk: Mit der Annäherung der Ukraine an die EU verlegt man dort das Weihnachtsfest gerade auf die Tage, an denen es auch in der EU gefeiert wird. Mit den Geschenken ist es aber für die ukrainischen Kinder genauso wie für ihre deutschen Klassenkameraden in den Schulen: Wie der siebenjährige Dmytro können sie es kaum erwarten, auspacken zu dürfen. Dmytro hofft auf ein Lego-Auto, erzählt er. „Und ich wünsche mit ein Puzzle.“
Quelle: Neu-Ulmer Zeitung, 18.12.2023, Text und Foto: Dagmar Hub